Weihnacht in der Rue Bonaparte

Adventfenster 2016 der Familie Hannen
Adventfenster 2016 der Familie Hannen

Weihnacht in der Rue Bonaparte

Karl Springenschmid

 

René, zwölf Jahre alt, verdiente sich in einem kleinen Vorort von Paris morgens zwischen fünf und sieben Uhr ein Taschengeld. Er fuhr auf einem alten Lieferfahrrad dem Bäcker Pierrefeu die Brötchen aus.

Dabei begegnete er jedes Mal auf der Rue Bonaparte einem geschlossenen Trupp deutscher Kriegsgefangener, die tagsüber im Steinbruch Granitwürfel brechen mussten. Wenn der Wind von den Bergen herabstrich, konnte man den hellen Klang der Hämmer hören. Alle trugen graue, zerschlissene Uniformen. Ihre Gesichter waren schmal und blass. Keiner von ihnen hob den Kopf. Die Leute beachteten sie nicht. Man sprach auch nicht von ihnen. Sie waren einfach nicht vorhanden. Es waren ja auch Feinde. Sie waren doch mit daran schuld, dass der älteste Sohn des Bäckers gefallen war, der Friseur nur mehr ein einziges Bein hatte und der Lehrer nur einen Arm.

René hatte sich erst gefürchtet, dann war ihm der Anblick völlig vertraut, und schließlich konnte er nichts Arges an ihnen finden. Er spürte sogar den Wunsch, die bekümmerten Gesichter irgendwie aufzuheitern. Sie sahen doch deshalb so elend aus, weil sie Hunger hatten. Und Hunger war etwas Schreckliches, ärger als jede Krankheit. Hunger war nicht zu heilen. Hunger blieb. Gewiss hatten sie seit Monaten kein frisches Gebäck mehr gesehen. Dabei gab es jetzt wieder richtige weiße Semmeln, die man, weil sie rund wie Kugeln waren, Boulettes nannte.

Wie es zu dem merkwürdigen Unfall kam, konnte hinterher niemand mehr genau sagen. Jedenfalls, am Morgen des 24. Dezember stürzte René plötzlich kopfüber vom Rad und überschlug sich. Dabei kullerten die dreiundachtzig Semmeln, wie Meister Pierrefeu nachträglich feststellte, über das harte Pflaster - da lagen die Boulettes, und da kamen die Männer. René erinnerte sich noch dran, dass keine Semmel, die auf den Boden gefallen war, noch verkauft werden durfte. Das war Vorschrift. Weshalb hätte er sich noch bücken sollen? Und ehe die beiden Wachsoldaten, die verschlafen hinter dem Zug einher trotteten sahen, was vorging, waren die Semmeln schon wie Schnee in der Sonne verschwunden.

Sein Fahrrad funktionierte noch, obwohl die Hose zerrissen war und er am rechten Knie blutete. So fuhr René zur Bäckerei zurück und rief in die Backstube hinein: „Ich bin gestürzt, Meister, und die Semmeln…“. Der Meister ahnte das Unglück und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. René wartete geduldig, er hatte mindestens drei erwartet. Die Angelegenheit schien aber damit erledigt.

Nicht aber für die übrigen Bewohner des Städtchens! Was in der Rue Bonaparte geschehen war, ging wie ein Lauffeuer durch das ganze Städtchen. Eine Stunde später kam die Junge Lehrerein Nanette in den Laden: „Ich habe gehört, Pierrefeu, Sie haben einen Korb Semmeln für die Deutschen gespendet. Das soll Ihnen kein Schaden sein. Hier ist das Geld!“ Ehe der bestürzte Meister die Angelegenheit richtigstellen konnte, hatte sie den Laden schon wieder verlassen. Dann trat der Steuerbeamte Gevrey herein und spähte vorsichtig nach allen Seiten. „Auf ein Wort Meister“, flüsterte er, „ich habe genau gesehen, was vor meinem Hause geschehen ist und finde es richtig, was Sie dem Jungen aufgetragen haben: Denn auf diese Weise kann Sie niemand wegen Verrates verklagen (auf Zusammenarbeit mit dem Feind stand Strafe). Es war ein Unfall, nicht mehr und nicht weniger. Sie aber sind dadurch zu Schaden gekommen. So möchte ich denn mein Scherflein beitragen, diesen Schaden zu mindern.“

Der Meister bekam einen roten Kopf und wollte etwas erwidern. Aber da schellte es schon wieder, und der Hilfskaplan Dinard stand in der Tür. Er erklärte dem Meister, er habe in der Eile rings um den Pfarrhof eine kleine Sammlung eingeleitet, um den Schaden zu decken, der ihm durch den Unfall seines Brotausträgers entstanden wäre. Es sei vielleicht ein wenig mehr geworden. Aber der Meister werde das Geld schon richtig zu verwenden wissen.

Genug! Jedenfalls hatte der Bäckermeister am Abend dieses denkwürdigen Tages Geld für siebenhundertfünfundneunzig Semmeln in der Lade. Die dreiundachtzig verlorenen weggerechnet, blieben noch siebenhundertzwölf. Was sollte er tun? Er konnte doch nicht diesem Teufelskerl René jeden Morgen in die Rue Bonaparte schicken, um dort mit dem Rad an den Randstein anzufahren und den deutschen Kriegsgefangenen die frischen Bouletten hinzuschütten.

Aber das Geld, das sich bei ihm angesammelt hatte, bedrückte ihn sehr. So ging er denn in die Kaserne und besprach sich mit dem Hauptmann. Der war ein Mann, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte.

Von diesem Tage an fuhr der kleine René Fontpillard jedes Mal, ehe er die Kundschaft im Städtchen bediente, mit einem Korb voll frischer Semmeln zum Lager der Deutschen hinaus und freute sich über die Maßen, wenn er sah, wie sich die harten, ernsten Gesichter der Männer verklärten; nicht nur, weil sie sich auf die frischen Semmeln freuten, mehr noch, weil sie spürten, welche Wandlung seit dem weihnachtlichen Geschehnis auf der Rue Bonaparte in den Herzen der Menschen vor sich gegangen war.

 

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