Die Uhr des Baltus Kern

Adventfenster 2012
Adventfenster 2012

Die Weihnachtsuhr des Baltus Kern

nach Josef Reding

 

Das Fährschiff ist voll bis zum Gehtnichtmehr. Irgendwo hing früher ein Schild: „Zahl der zugelassenen Fahrgäste: 80". Aber ich sehe im Gedränge das Schild nicht. Von wegen 80! Heute sind mindestens 100 Menschen auf der Fähre. Ob der Kapitän da nicht eingreifen ...? Aber es ist das letzte Schiff vor Heiligabend. Da wollte man niemanden an der Gangway stehen lassen.

Die jungen Leute haben es offenbar besonders eilig. Ein Mädchen in einer dunkelroten, flauschigen Jacke fragt jetzt schon zum dritten Mal während unserer kurzen Fahrt: „Wie spät ist es?"

Derselbe Mann, der dem Mädchen die Uhrzeit erst vor drei Minuten gesagt hat, zieht lächelnd seine Taschenuhr und gibt Antwort: „Elf Minuten nach fünf."

„Geht die Uhr auch richtig?", fragt ein kleines Mädchen, das genauso gekleidet ist wie die Schwester in der flauschigen Jacke.

„Doch", nickt der Mann. „Ich hab mich immer auf die Uhr verlassen können, seit ich sie bekommen habe."

Das kleine Mädchen schüttelt in leisem Zweifel den Kopf und flüstert der Schwester zu: „Komische Zwiebel, die Uhr aus der Tasche! Scheint kein Verlass drauf zu sein."

Das größere Mädchen stößt der Kleinen leicht in die Seite. Aber der Flüsterfluss lässt sich nicht aufhalten: „Ich glaube, wir fragen besser einen modernen Mann mit 'ner Quarzuhr."

„Können Sie uns die genaue Uhrzeit sagen?", fragt mich jetzt das kleine Mädchen.

„Ich habe zwar keine Quarzuhr", sage ich etwas mürrisch. „Aber vielleicht tut's auch eine Uhr mit Zeigern. Elf - nein, jetzt zwölf Minuten nach fünf. Die Zeitangabe des Herrn mit der Taschenuhr war exakt."

Der Herr mit der Taschenuhr winkt dem Mädchen be­schwichtigend zu und lächelt wieder. Ihm scheint es nichts auszumachen, zum Narren gehalten zu werden. Ich wünsche mir sein Gemüt.

Die beiden Mädchen sind verlegen. Die Kleine sagt: „Ich habe Ihre Uhr Zwiebel genannt, und trotzdem bleiben Sie freundlich."

„Fällt mir nicht schwer", sagt der Mann. „Ich werde oft daran erinnert."

„Woran?", frage ich.

„Ans Freundlich sein", sagt der Mann. „Durch meine Ta­schenuhr." „Wie kann man durch eine Uhr ans Freundlich sein erinnert werden?", fragt das kleine Mädchen. „Eine Uhr sagt einem doch nur ganz ernst die Zeit und spornt höchstens zur Eile an. Aber zur Freundlichkeit?"

„Die Uhr des alten Baltus Kern tut's", sagt der Mann. „Heißen Sie so, Baltus Kern?", fragt das große Mädchen und verkneift sich ein Lachen. Darf man bei diesen Gören nicht einmal den Namen Baltus Kern haben, ohne dafür ausgelacht zu werden?

„Nein", sagt der Mann und lacht selbst, worauf mich die Mädchen bestätigt ansehen und ich ob meiner Verdros­senheit unsicher werde.

„Nein", sagt der Mann noch einmal und lässt die Taschenuhr wieder aufspringen. Ich kann bei dem Gedränge das Zif­ferblatt nicht erkennen. Aber nach dem Äußeren muss es eine ziemlich einfache, abgeschabte Uhr sein.

„Baltus Kern hat mir viel geholfen, als ich zu ihm in die Lackiererei kam. Ich war vorher in einem anderen Beruf. Aber dann wurde ich arbeitslos und musste umschulen. War nicht leicht für mich. Ich war damals schon über 40 und fing wieder da an, wo ein Lehrling anfängt. Aber der alte Baltus ließ mich nie spüren, wenn ich mich dumm anstellte und mit der Spritzpistole mehr mein Knie traf als die Bleche, die wir zu lackieren hatten. Er zeigte mir mit Geduld und Kön­nen, wie man auch das Innere eines Rohrs gleichmäßig ausspritzt. Ist schwer, so ein Rohr auch im Innern ohne Klum­pen und Blasen und Rillen zu lackieren."

„Kann ich mir vorstellen", sagt das kleine Mädchen. „Ich hab schon Last, wenn ich meine Ohren gleichmäßig sauber machen soll."

Der Mann nickt: „Aber nicht nur mit mir ging Baltus Kern so freundlich und mit so viel Verständnis um. Alle in der Lackiererei mochten den Alten. Er sprach mit den Auszubildenden genauso aufmerksam wie mit den Meis­tern. Wenn Menschen unsicher waren, machte er sie si­cherer. Wenn sie ein Wort des Zuspruchs brauchten, gab er es ihnen. Baltus hatte ein Gespür für den Einzelnen und für das scheinbar Kleine."

„Das verstehe ich nicht", sagt das ältere Mädchen. „Für das scheinbar Kleine..."

„Na ja, bei uns in der Lackiererei waren einige, die sprachen nur darüber, wie man in den Vereinten Nationen die Welt­probleme lösen soll und welches Land neue Regierungen haben müsste. Und Baltus, der merkte, wenn es einem Kolle­gen im Betrieb dreckig ging oder wenn einer sich mit Schulden herumquälte oder Sorgen um die Familie hatte. Das scheinbar Kleine eben."

„Das gefällt mir", sagt das kleine Mädchen. „Vielleicht bin ich auch nur scheinbar klein!"

„Sicher", sagt der Mann. „Baltus Kern hätte auch dich gern gehabt, so klein, wie du bist. Er liebte überhaupt die klei­nen Dinge und hatte eine gute Hand dafür: Käfer, Blumen, kleine Bilder. Er konnte auch mit einem winzigen Lackier­pinsel ganz fein malen und schreiben. Eine Briefmarke war für ihn so groß wie ein Schreibblatt."

„Sind wir bald am Anlegeplatz?", ruft einer der Passagiere.

Der Mann schaut auf die Taschenuhr. „Noch sieben Minuten", ruft er ermunternd zu dem Ungeduldigen hinüber. „Wir kommen noch alle zum Heiligabend zurecht."

„Aber wie ist das möglich?", frage ich. „Wie ist das möglich, dass man mit allen Menschen zurechtkommt und gleichbleibend freundlich ist. Ich schaffe das einfach nicht. Ich bin oft mufflig und brummig und unwirsch. Der alte Baltus Kern ist sicher die große Ausnahme, und Sie auch!"

„Ich war früher auch oft ungenießbar", sagt der Mann. „War aufbrausend und eigensüchtig. Aber ich kriege jeden Tag zwölfmal einen Rippenstoß, anders zu sein. Dann klappt's."

„Und wer gibt Ihnen den Rippenstoß?", frage ich.

„Die Uhr des Baltus Kern", sagt der Mann und hält mir das Zifferblatt dicht vor die Augen. Ich erschrecke ein bisschen: Von der Mitte der Uhr laufen kleine Aufschriften zu den einzelnen Ziffern, wie Schriftstriche. Trotz der Kleinheit kann man sie lesen: „Freundlich grüßen" steht da und „Tagesgeschenk machen" und „Mut zusprechen" und „Hilfe anbieten" und ... Da zieht der Mann die merkwürdige Uhr schon wieder weg, weil auch die beiden Schwestern das Zifferblatt ab­lesen möchten.

„Baltus Kern hatte die Uhr schon früh so beschriftet”, sagt der Mann. „Ich glaube, zu seiner Gesellenprüfung."

„Und wie sind Sie zu der Uhr von Baltus Kern gekommen?", frage ich.

„Er hat sie mir geschenkt, als er sie nicht mehr brauchen konnte", sagt der Mann. „Als er Rentner wurde, zog er in das Dachgeschoss einer Lagerhalle, die zur Lackiererei gehörte. Bett, Stuhl, Tisch und Spind hat er sich selbst gezimmert.

Durch eine Luke konnte er hinuntersteigen. Aber bald konnte er nur noch wenig, dann gar nicht mehr nach draußen. Die Gicht hatte ihn krumm gebogen, und beim jahrelangen Lackieren hatte die Lunge gelitten. Ein paar Arbeiterinnen bei uns kauften für ihn ein und sorgten ab und zu auch für ihn. Aber die meiste Zeit war der alte Baltus Kern allein, ohne Menschen."

„Waren Sie denn nicht öfter bei ihm?", fragt das große Mädchen. „Solange ich noch in der Lackiererei war, ja", antwortet der Mann. „Aber bald nach Baltus Kerns Abschied wurde mir eine Stelle in meinem alten Beruf angeboten, in einem entfernteren Stadtteil. Ich konnte Baltus nur noch

selten besuchen. Schließlich nur noch zu Weihnachten. Und bei einem solchen Besuch drückte mir Baltus seine Taschenuhr in die Hand. Ich schaute auf das Zifferblatt und erschrak, ähnlich wie Sie vorhin, mein Herr", sagt der Mann und nickt mir ver­ständnisvoll zu.

„Warum erschrickt man eigentlich, wenn man das Zifferblatt dieser Uhr sieht?", frage ich.

„Weil es einen zuerst unruhig macht. Man spricht ja von einer “Unruhe“ in den Uhren. Aber diese knappen, deutlichen Aufforderungen auf der Uhr von Baltus Kern machen bestimmt unruhig, schrecken uns auf, zeigen uns, was wir tun sollen."

Die beiden Mädchen und ich nicken langsam mit den Köpfen. „Ich kann die Uhr nicht mehr brauchen“, sagte Baltus an meinem Weihnachts-Besuchsnachmittag bei ihm. „Ich kann nur noch meine Wände freundlich grüßen und nur noch mich selbst aufmuntern.“ Die Uhr muss wieder unter die Leute. Nimm du sie!“ - Das klang so bestimmt, dass ich die alte Taschenuhr gehorsam nahm. Erst auf dem Rückweg von Baltus Kerns Dachwohnung merkte ich, was ich da über­nommen hatte. Und einige Wochen später fühlte ich mich so umgetrieben von der Uhr, dass ich sie Baltus Kern zurückbringen wollte. Aber es ging nicht mehr. Niemand mehr konnte dem alten Baltus etwas zurückbringen. Ich musste die Uhr behalten. Ich musste mich an sie gewöhnen."

Der Mann zwinkert. Da werden die aneinander gedrängten Passagiere durch einen Stoß an der Steuerbordseite der Fähre durcheinander gerüttelt. Als ich nach einigen Sekunden des Schwankens und Tastens wieder festen Halt habe, ist der Mann mit der Uhr schon fort; der Schub der ersten Eiligen hat ihn mitgenommen.

„Ich hätte mir das Zifferblatt gern abgemalt", sagt das kleine Mädchen. Und das größere Mädchen ruft den Gestalten, die draußen in Dämmerung und Schneetreiben verschwinden, bittend nach: „Kommen Sie doch, Herr - Herr - !" Dann wird das Mädchen wieder leiser und sagt: „Wir kennen ja nicht mal seinen Namen." „Nein", sagt das kleine Mädchen. „Wir kennen nur Baltus Kern."

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